Sonntag, 16. Januar 2011

Der Tote und das Mädchen

"Warum kann dich keiner von ihnen sehen?", verlangte Elith zu wissen.
"Ich bin dein Geist", antwortete Lajos mit einem selbstzufriedenen Grinsen, in das Elith gern hineingeschlagen hätte. Allein, sie wusste, dass sie nicht treffen würde. "Du hast mich getötet, nicht die."
Eliths Augenbrauen rückten kurz einen Milimeter näher zusammen, ehe sie sich wieder entspannten. Es war unfair von ihm, sie darauf hinzuweisen. Es reichte ja wohl, dass sie es getan hatte, er musste sie nicht auch noch mit der Nase darauf stoßen. Gewissermaßen tat er das auch durch seine bloße Anwesenheit schon. Immerhin war es Notwehr gewesen, ihr gutes Recht! Außerdem war er Abschaum, ein Mörder und Räuber, und die Welt war sicher ohne ihn besser dran.
"Du hast dutzende Menschen auf dem Gewissen", erwiderte Elith verärgert. "Was ist mit deren Geistern? Haben die dich auch heimgesucht und bei deinen Leuten unmöglich gemacht?" "Unsinn", antwortete der Tote. "Die haben mich nie beschäftigt. Irgendwann hat man Routine, weißt du? Außerdem hatten die nichts wirklich Wichtiges mehr zu erledigen."
Da also kamen sie auf den Punkt! Elith hatte in alten Märchen oft von Toten gehört, deren Geister keine Ruhe fanden, ehe sie nicht noch eine bestimmte Rechnung beglichen, ein Unglück abgewendet oder einem anderen Menschen geholfen hatten. Aber welche offene Rechnung konnte Lajos schon haben? Keine Gute, das war sicher.
"Und welche wichtige Sache hast du noch zu erledigen"?, fragte Elith ihn betont ironisch. "Die Schatzkammer des Königs plündern? Mehr Menschen töten?" Schlimmeres als das, was er zu Lebzeiten bereits angerichtet hatte, konnte sie sich für den Augenblick nicht zusammenreimen, daher beließ sie es dabei, ihn böse anzufunkeln, auch weil das immer noch besser war, als einfach wegzurennen, wonach ihr eigentlich der Sinn stand.
"Nein. Ich muss die Seelen der Menschen retten."
Er sagte das in einem trockenen, fast beiläufigen Ton. Da hätte Elith ihm aber bessere Witze zugetraut. Aber vielleicht verlor man ja seinen Humor, wenn man starb. Aus Erfahrung konnte sie da nicht sprechen. Sie sah ihn eine Weile abwartend an. Was sollte sie auf diesen Blödsinn auch erwidern?! Ihr stand nicht der Sinn nach dummen Witzeleien - sie wollte wissen, was er hier tat, und vor allem wie sie ihn wieder los wurde!
Ausdruckslos blickte er ihr in die Augen, und sie hielt diesem Blick eine Weile stand, auch wenn es ihr schwer fiel. Zu ungewohnt war es doch, Augen zu sehen und doch durch sie hindurch zu sehen. Und gewissermaßen sah sie sie auch nicht, sie wusste nur, dass sie da waren. Inzwischen kostete es sie eine noch größere Anstrengung, hinzusehen. Es war auch recht irritierend, dass er überhaupt nicht blinzelte. Als ihr das auffiel, musste sie gleich mehrmals selbst blinzeln.
Als Lajos auch dann noch keine Anstalten machte, brach sie das Schweigen entnervt: "Wenn du es mir nicht sagen willst, was tust du dann hier?!" "Ich hab es dir doch gesagt." "Seelen retten, jaja, witzig." Mit sowas scherzte man nicht, dachte Elith vorwurfsvoll. "Mit sowas scherzt man nicht", sprach Lajos - wie sie hoffte unbewust - ihre Gedanken aus. Als ihr Blick nur noch vorwursvoller wurde, seufzte er theatralisch, überlegte kurz und meinte dann, halb zu sich selbst: "Hast du schon einmal versucht, einer Ameise ein Uhrwerk zu erklären?" "Nein, meine Gesprächspartner waren bisher offenbar intelligenter und unterhaltsamer", versuchte sie einen schwachen Konter. Er ließ sich davon nicht beirren.
"Nehmen wir also an, du seist diese Ameise. Und das Uhrwerk, von dem ich rede, heißt in deiner unzulänglichen Sprache 'Himmel und Hölle'". "Du bist kaum drei Tage tot und glaubst schon, die Weisheit über das Jenseits mit Löffeln gefressen zu haben, hm?" "Ich weiß jedenfalls mehr über das, was du Jenseits nennst, als du. Nebenbei bemerkt ist 'Zeit' dort auch eine sehr viel andere Konstante als hier. Jedenfalls", nahm er den Faden betont wieder auf, "ist etwas passiert, wodurch dieses dir als Himmel und Hölle bekannte Konzept gehörig aus der Bahn geworfen werden konnte." "Ich glaube nicht, dass ich da viel machen kann", antwortete Elith skeptisch. Oder doch? Womöglich konnte sie etwas tun, sobald sie tot war. Es ging schließlich um jenseitige Dinge. Dann war Lajos also gekommen, um Rache zu üben? Aber das hatte er zuvor doch bereits geleugnet! Ach, wie dumm sie gewesen war, darauf etwas zu geben! Niemand war je ehrlich geworden, nur weil er tot war. Auch wenn Elith das nicht mit Gewissheit oder aus Erfahrung sagen konnte. Sie sah sich nach etwas um, mit dem sie sich schützen konnte. Aber womit schützte man sich vor Geistern? Ihre abwehrenden Zeichen hatten bisher auch keine Wirkung gezeigt.
"Oh, das glaube ich doch, sonst wäre ich ja nicht hier. Aber vielleicht möchtest du mich erst ausreden lassen. Dir sagt der Name Asmos etwas?" "Ein Dämon, das personifizierte Böse", antwortete Elith angewidert vom Namen dieses Verbrechers. "Hast du nicht selbst für ihn gearbeitet?" "Zuweilen. Du bist näher an der Wahrheit als dir wahrscheinlich lieb ist." "Er ist ein Dämon?" "Noch nicht. Noch ist er ein Mensch wie du und... wie ich es mal war. Ich werde jetzt versuchen, dir noch etwas in deiner begrenzten Sprache zu erklären, Ameislein." Soso, begrenzte Sprache. Wenn Elith sich nicht völlig irrte, sprachen sie beide nach wie vor die selbe Sprache, aber wenn er sich hier als Weiser aufführen wollte, nur weil er tot war, dann bitte. "Es gibt gewisse... Richtlinien, aus denen hervorgeht, ob eine Seele in die Hölle oder in den Himmel kommt. Und nein, du kannst sie nicht in der hiesigen Bibliothek einsehen. Sie sind auch nicht geschrieben oder überwacht, sie sind schlicht da, und werden angewendet." "Von wem?" "Das übersteigt deinen Horizont." "Die Götter übersteigen meinen Horizont?" "Nein, Götter sind ganz offensichtlich etwas, was dein unzulänglicher menschlicher Verstand gerade noch so hervorbringen kann." "Vorsicht, Freundchen, vor kurzem ging deiner ja wohl auch nicht sehr viel weiter." "Wahr. Aber das hast du ja nun gründlich geändert." Unerlaubter Tiefschlag, dachte Elith und funktelte erneut böse herum.
"Diese Richtlinien jedenfalls stehen nicht fest. Sie werden mit jedem Toten neu ausgelotet. Jede... Gesellschaft, Religion, jede Zeit hat ihre eigenen Richtlinien. In einer besonders frommen Gesellschaft kommen sicher andere Seelen in die Hölle als in einer besonders sündigen." "Es gibt also eine Quote zu erfüllen?" "Gewissermaßen." Er sagte das ohne jegliche Ironie in der Stimme. "Das ist doch absurd." "Das hättest du vor drei Tagen auch noch jemandem erzählt, der berichtet hätte, er habe einen Geist gesehen. Und ihn im Übrigen ständig beleidigt." "Ich hab dich nicht beleidigt!" Wirklich, wenn hier einer wen beleidigte, dann war das doch wohl Lajos!
"Kommen wir also zurück zu Asmos und dieser Stadt. Ich mach es kurz: Seine Sünden wiegen besonders schwer, diese Stadt hingegen ist relativ fromm. Er könnte es schaffen, das Gleichgewicht vollkommen zu verschieben."
"Ich glaube, ich verstehe nicht." "Das hätte mich auch gewundert. Es bedeutet, einfach und verfälschend gesagt, dass mit seinem Tod die Richtlinien völlig neu geschrieben werden würden. Gemessen an ihm wären alle anderen unschuldige Kinder und würden dementsprechend - na?" "Aufsteigen?" "Sieh an, manchmal denkt sie doch mit." "Ich sehe das Problem nicht." Und was sie damit zu schaffen hatte. Er verdrehte die Augen. Für einen Geist war er doch recht ungeduldig. "Das schließt auch Leute wie mich mit ein. Und schlimmere. Und ja, die gibt es." "Würde sich das da oben dann nicht irgendwie selbst regeln?" "Es gibt im Himmel keine Gefängnisse, wie du es wohl niedlich naiv umschreiben würdest."
"Moment, Moment. Du bist also hier, um zu verhindern, dass du selbst in den Himmel kommst? Das ist lächerlich." "Keineswegs. Denn wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, wird es keinen Himmel mehr geben, der diesen Namen verdient hätte. Oder glaubst du ernsthaft, dass ein Himmel, in dem Leute wie ich wohnen, noch ein so friedlicher Ort wäre?" "Was kümmert's dich? Du könntest weitermachen wie bisher." Sie glaubte ihm einfach nicht. Wie sollte sie auch. Was er da von sich gab, war einfach zu ungeheuerlich. Er schüttelte den Kopf. "Du denkst in den falschen Kategorien. Aber ich kann dir daraus keinen Vorwurf machen, Ameise, wenn du Zahnräder für Tannennadeln hältst. Ein solcher Himmel wäre für Leute wie mich die Hölle. Es wäre einfach nicht richtig." "Das war dein Handeln in dieser Welt auch nie." "Das ist relativ." "Und im Himmel wäre das etwas anderes?" "Es wäre absolut, und ich wüsste es." "Das verstehe ich nicht." "Das wundert mich nicht." "Du fängst an, mich zu nerven!" "Sagen wir, ein Asmos im Jenseits würde aus dem Himmel die Hölle machen. Auch wenn es etwa das Gegenteil der Wahrheit ist, wird es in deinem Verstand schon nach den üblichen Verdrehungen und Abstraktionen der Wahrhein ganz nahekommen."

Er nervte wirklich. Einer der schlimmsten Verbrecher der Stadt, sicherlich grenzenlos ungebildet und das Gegenteil eines guten Menschen war er. Und doch tat er nun so, als wäre er der gebildetste unter allen Doktoren der Universität, und das nur weil er tot war. Ob sie auch so werden würde, wenn sie tot war?
"Du sollst also verhindern, dass das passiert." "Genau genommen sollst du das verhindern und ich soll dir dabei helfen. Meine Macht hier ist doch stark begrenzt." "Aha!" Elith gönnte sich diesen kurzen Augenblick des minimalen Triumphes.
"Na schön. Und wie können wir das verhindern?"
"Durch seinen Tod", antwortete Lajos. "Oder indem wir seinen Tod verhindern. Da bin ich mir noch nicht ganz sicher."